... Yudansha , mit sich selbst und mit den anderen Vor langer Zeit befand ich mich in Gesellschaft von Meister Shinpo Matayoshi. Matayoshi ist Träger des 10. Dan (Kobudo) und lebte von 1922 bis 1997. Wir befanden uns damals zusammen auf einem Lehrgang, den er auf meinem Wunsch in unserem Dojo hielt. Es handelte sich dabei um einen der allerersten Besuche von Meister Shinpo Matayoshi in Europa."
IN KRIEGSZEITEN MUSS MAN DIE BUDO-KÜNSTE AUSÜBEN, UM ZU ÜBERLEBEN. IN FRIEDENSZEITEN, UM LÄNGER ZU LEBEN. Zu jener Zeit "tranken" wir förmlich seine Worte in dem Augenblick, in dem wir gleichzeitig seine Technik lernten, die er mit einer seltenen Meisterschaft beherrschte. Eine Situation von damals habe ich heute noch so vor Augen, als wäre sie erst gestern geschehen: Der Meister lehnte an einer Brüstung und betrachtete eine Ebene, die sich vor ihm ausstreckte. Ich fragte ihn, wie er wohl Budo definieren würde. Shinpo Matayoshi drehte sich schnell zu mir um und antwortete lachend: "In Kriegszeiten muss man die Budo-Künste ausüben, um zu überleben. In Friedenszeiten dagegen, um länger zu leben." Während er dies sagte, schaute er mich an und nickte verschwörerisch mit dem Kopf. Diese Aussage habe ich schon oft zitiert und sie ist mir bis heute auch noch sehr gegenwärtig. Dennoch begann ich erst 20 Jahre später damit, dieser Aussage einen Sinn zu geben. Damals habe ich sie im Ganzen noch nicht verstehen können, da ich zu diesem Zeitpunkt erst 15 Jahre Karate-Do hinter mir und den Weg noch nicht lange genug beschritten hatte. Die Worte von Sensei Matayoshi bekamen für mich erst eine reichere und präzisere Bedeutung, als ich meine Lebenserfahrung und die Erkenntnisse auf dem Weg der Kampfkünste in- und außerhalb des Dojo verbunden hatte. Natürlich gibt es immer den Aspekt des "Überlebens". Schließlich ist es auch heutzutage möglich, dass man mit einer Aggression konfrontiert wird. Dies ist das authentische, wahrlich martiale Budo. Es gibt auch den Aspekt des "länger lebens". In diesem Fall steht der Erhalt der Gesundheit im Mittelpunkt des Kampfsporttrainings. Aber, und das habe ich erst später entdeckt, es gibt auch einen Sinn des "besser lebens" (weil "anders"). Auf diesen Aspekt der Budopraxis möchte ich hier einmal eingehen.
DIE REALITÄT DES LEBENS KENNENLERNEN "Der erste Grund, warum man eine Kampfkunst ausübt, ist, dass es recht schnell einige primäre Bedürfnisse befriedigt: Selbstvertrauen, Kondition und Körperbeherrschung, größere Selbstsicherheit, wohltuende Mobilisierung aller physischen Fähigkeiten, Besserung der Gesundheit, sportliche Erfolge, Graduierungen... Diese Qualitäten sind durchaus legitim. Sie verdienen die Mühe, auch wenn sie oftmals zu gefährlichen Übertreibungen durch unüberlegtes Handeln führen. Das Ausüben einer Kampfkunst, vorausgesetzt, dass sie lange genug gemacht wird, lehrt "besser zu leben" - allerdings unter der Prämisse, nicht einer Selbsttäuschung zu erliegen (Egokult). Mit Geduld entwickelt man sein Selbstbewusstsein. Man erlebt das Selbst. Dies ist in der Tat ein umfangreiches Programm: Ich habe aber auch von Geduld und Ausdauer gesprochen - den Grundlagen. Zu beachten ist jedoch, dass jede Kampfkunst, die diesen Namen verdient, im Zentrum ihrer Daseinsberechtigung in einer Gesellschaft, die nicht mehr kriegerisch ist, die geistige Entwicklung des Ausübenden in den Mittelpunkt setzen soll." NEUE DIMENSION DER KAMPFKUNST "Dies ist zu vergleichen mit dem Zugang zu einer anderen Wissensstufe. Es ist wie das Durchschreiten einer längst geöffneten Tür oder das Eingehen auf ein bereits ausführlich besprochenes Thema. Das ist aber nicht das, worauf ich hinaus will. Ich möchte nur betonen, dass man eine neue Dimension der Kampfkunst erreicht, wenn man auch nur den Funken einer solchen Möglichkeit akzeptiert. Dies ist von gesellschaftlicher Seite her äußerst interessant, denn diese innere Entwicklung ist nur dann von Bedeutung, wenn sie auch auf andere abfärbt. Sonst stagniert man in einer anderen Form der Selbstliebe. Wirklich besser leben mit sich selbst, heißt aber auch, besser mit anderen zu leben. Die Kampfkunst wird dann zu etwas ganz Unerwartetem: Sie wird zu einem humanistischen Weg... Indem man sich selbst kennen- und verstehen lernt, versteht oder entdeckt man auch seinen Nächsten. Man lernt seine eigenen Möglichkeiten und seine Grenzen kennen, seine positiven und seine negativen Seiten ohne Rückhalt bis in die Tiefen seiner Ängste und seiner Beweggründe. Man sucht nie nach Entschuldigungen und bleibt bescheiden. Das ständig vorwärts schreiten auf dem "Weg" bedeutet, dass man sich nicht mit den äußerlichen Erscheinungen zufrieden gibt. Es bedeutet, die Wirklichkeit des Lebens zu verstehen und insbesondere zu unterscheiden, was wirklich wichtig ist, was unwichtig ist und zu einer Konfrontation führen könnte, die dumm und unkontrollierbar ist. Fortschreiten in der Beherrschung der tagtäglichen Dinge des Lebens bedeutet ebenfalls, ein tieferes Verständnis des "Weges". Dies steckt in Wirklichkeit hinter den Budo-Techniken und deren offensichtlicher Anwendung. Das BU-DO ist ganz einfach eine Art "Schule des Lebens", mit einem Verweigern der Gewalt, die sicherlich in den Techniken des Bu-Jutsu steckt. Diese lehren letztendlich, wie man tötet. Weg des Krieges, Weg des Friedens... ein Jahrhunderte alter Widerspruch, der in jeder Kampfkunst enthalten ist.
STOPPT DIE GEWALT Gewalt entsteht aus Angst. Diese wiederum kommt aus der Unwissenheit, die man gegenüber der Umgebung empfindet, die einem manchmal feindlich erscheint; aber auch aus Unkenntnis der Möglichkeiten, mit denen man dieser Feindlichkeit entgegentreten kann. Durch das Üben und die Gefahr entdeckt man, was man ist und was man wirklich kann. Diese Erkenntnis hebt die Grenzen zwischen dem Inneren und Äußeren auf: Begegnungen, Dialoge, Toleranz im gegenseitigen Respekt werden dann möglich. Wir sind immer noch inmitten des Themas. Aber auch wenn wir hier in einem Artikel über Kampfkunst sind, muss man sich erinnern, dass die ursprüngliche Bedeutung des Ideogramms "Bu" (oder im Chinesischen "Wu" in "Wushu") den Sinn der Tapferkeit hat, nicht des Krieges, und dass es übersetzt werden kann durch "Stoppen der Lanze". Dies ist ein Akt der Selbstverteidigung und nicht des Angriffes. Diese Interpretation der Technik, sicherlich eine Kampftechnik, wurde systematisch von den alten Meistern betont - und dies in allen Disziplinen und Ursprungsländern. Es handelt von der innerlichen Entwicklung des Menschen, von der Entdeckung der universellen Harmonie, des Friedens. Sie stellt das Schwert, das das Leben lässt, weit über die Schneide, die tötet. Ich erinnere immer wieder daran, dass zwei wirkliche Meister der Kampfkunst nie miteinander kämpfen werden, denn ein wahrer Meister hat jegliche Aggressivität verloren. Es sei denn, dass etwas wirklich Wichtiges dieses Gleichgewicht stören würde. Aber wie kann man dies noch erklären in einer Welt, die mehr und mehr an Gewalt und an Entgegengesetztem kränkelt, in der der Konkurrenzkampf durch die selbstgefälligen Medien zu einem universellen Wert hochstilisiert wird? Wie kann vermieden werden, dass eine Kampfkunst nicht endgültig ihre Richtung und ihre Reife verliert, die ihre Initiatoren ihr gegeben haben? Und wer würde uns morgen noch helfen? BESSER MIT SICH SELBST LEBEN Budo bedeutet „sein ganzes Leben leben" bzw. „besser leben" mit sich selbst. Anders sehen, die anderen entdecken. Ein wahrer Budoka ist insbesondere deshalb effizient, weil er gelernt hat, eine Konfrontation zu vermeiden. Weil er verstanden hat, dass sich den anderen beweisen, nur um sich beweisen zu wollen ohne einen lebenswichtigen Grund, nicht notwendig und ein Zugeständnis an das Ego ist, das einen vom wahren Ziel abbringt. Diese Einstellung muss jeder „echte“ Schwarzgurt verteidigen, anwenden und demonstrieren. Dies ist die erzieherische Botschaft. Sie liegt weit über den kleinlichen Querelen der Schulen und Stile, der Überbewertung des Bunkai oder der elitären Unterrichtsmethoden. Diese Botschaft ist weit entfernt von den unaufhörlichen Auseinandersetzungen, die nur zu Trennungen führen und die nur der Selbstgefälligkeit des einen - oder anderen zur Mitgliederwerbung dienen. Diese Botschaft sollte ständig innerhalb und außerhalb der Dojo gelehrt werden bis in die letzten Winkel dieser Gesellschaft des 21. Jahrhunderts, für die sich viele Gefahren ankündigen. Sie ist sich übrigens sehr wohl der qualvollen Entwicklung bewusst, die sie äußerst zerbrechlich macht. Durch meinen Beruf als Lehrer habe ich das Privileg und auch die Aufgabe, zu meinen Schülern zu sprechen. Und ich weiß, dass es gerade das ist, was sie von uns erwarten. Dass wir sie als Lehrer beruhigen und erklären, was morgen noch der normale Weg sein müsste in einem Leben, das belegt sein muss mit immer aktuellen Werten. Werten wie Leistungsbereitschaft, Respekt für andere, kulturellem Reichtum, die man mit Mut verteidigen muss. Einsatz, Mut, Mäßigkeit und auch die Wichtigkeit der Wachsamkeit sind Werte, die an die folgenden Generationen übermittelt werden müssen. Ein Baum hat Wurzeln, bevor er Blätter hat. Man braucht viel Zeit, ein Mensch zu werden, aber es geht schnell, einen Menschen zu zerstören. Ich weiß aus meiner 35jährigen Erfahrung als Lehrgangsleiter mit vielen Tau- send Budoka, dass der größte Teil unter ihnen mehr verlangt, als nur überzeugt zu werden. Aber durch das Beispiel eines Schwarzgurtes (d.h. von denjenigen, die sich weiter oben auf diesem berühmten Weg befinden, der so oft besudelt wird) möchten sie inspiriert werden. Sie möchten informiert werden über das destruktive Potential, das man durch das Ausüben der Kampfkunst erreichen kann, und wie man es kontrollieren kann und muss im ethischen Respekt des Geistes der Geste. Glücklicherweise erkennen viele von ihnen den wahren Sinn ihres Schwarzgurtes. Sie nehmen die Verantwortung als wahre Yudansha (= Dan-Träger) für sich und für diejenigen wahr, die sie tagtäglich in und außerhalb des Dojo umgeben. So will es die Tradition, die sie ehren. Text : Roland Habersetzer
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